Die Geschichte hinter der Material-Box
Wie nicht selten hat die Arbeit an Ideen für Weiterentwicklungen in einem Arbeitsfeld mit einer Krise und Verunsicherung begonnen. Die Aufarbeitung und Analyse eines Missbrauchsfalls durch das Amt für Kinder, Jugendliche und Familie der Stadt Münster mit wissenschaftlicher Unterstützung des Institutes für Soziale Arbeit e.V. zeigte – wohl nicht zum ersten Mal - dass der Kinderschutz auch deshalb ein Kind nicht schützen konnte, weil die Mitarbeitenden keinen Zugang zu dem betroffenen Kind gewonnen haben. Ängste des Kindes, Widerstand der Eltern und Unsicherheiten der Fachkräfte, wie überhaupt mit Kindern in dieser Situation gesprochen werden kann, kamen zusammen.
In der anschließenden Revision des gesamten Kinderschutzverfahrens im Kommunalen Dienst der Stadt Münster ist die aktive Beteiligung von Kindern jeden Alters zu einer der zentralen Ziele geworden. Denn ohne Kommunikation mit den Kindern kann auch die gesetzlich geforderte Partizipation am Kinderschutz-Prozess nicht gelingen. Und diese ist nicht nur gesetzlich gefordert, sondern unabdingbar für eine erfolgreiche Arbeit im Kinderschutz. Nur wenn Jugendhilfe auch für Kinder verständlich, nachvollziehbar und wahrnehmbar wird, ist echte Partizipation möglich und nur dann kann Kinderschutz für Kinder wirksam werden. Aber wie?
Zusammengekommen ist schließlich eine Dreierbündnis, in dem das Material entwickelt und erprobt worden ist:
Der Kommunale Soziale Dienst (KSD) des Amtes für Kinder, Jugendliche und Familien der Stadt Münster mit Fachkräften, die aus der Revision ihres Kinderschutzarbeit heraus Ideen und Anforderungen für eine aktive Beteiligung von Kindern im Kinderschutz eingebracht und die vor allem die erste Version der Materialien in ihrer Praxis erprobt haben.
Dann Outlaw gGmbH, ein Täger mit vielfältigen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung ebenso wie Kindertageseinrichtungen und der offenen Kinder- und Jugendarbeit und der vor allem für die eigene Arbeit u.a. ein Bilderbuch zum Thema Kinderechte »Paul und (M)ein Tag voller Rechte« entwickelt und eingesetzt hat.
Und nicht zuletzt das Institut für soziale Arbeit e.V. in Münster ist sowohl als Fachstelle in grundsätzlichen Fragen des Kinderschutzes ausgewiesen und hat Jugendämter in der Analyse schwieriger Kindeschutzfälle unterstützt und in der Weiterentwicklung ihrer Kinderschutzpraxis begleitet.
Neue Bildwelten wollen für Kinder Kommunikation und Mitwirkung eröffnen
Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit ist das hier vorgestellte Set aus Bilderbuch, Bildkarten mit Darstellungen zu »guten« und »schlechten« Gefühlen, unangenehmen und angenehmen Situationen sowie zu Rechten der Kinder und zwei Faltplänen, in die zeigen, wie es weitergeht und »wie es wieder gut werden« kann. Alle Medien wurden von dem Illustrator Kai Schüttler gestaltet. Einzelne Elemente, beispielsweise die Darstellung von Situationen, in denen Kinder sich unwohl, bedroht oder verletzt fühlen, werden mehrfach genutzt
»Bei der Darstellung dieser Situationen haben wir bewusst eine neue Bildwelt geschaffen. Statt die Eltern als menschliche Figuren zu visualisieren, haben wir uns für Tiere entschieden. Wir haben diesen innovativen Ansatz gewählt, um die Situationen zu abstrahieren. Wir wollten vermeiden, dass Kinder schweigen, um ihre Eltern zu schützen. Unsere Darstellungsweise erlaubt hingegen viele Interpretationsmöglichkeiten und fördert die offene Kommunikation«, beschreibt Sabine Zimmermann einen zentralen Gestaltungsaspekt. Auch Sandra Krome (Kinderschutzbeauftragte der Stadt Münster) betont die Bedeutung des neuen Ansatzes: »Das war ein besonders eindrücklicher Moment in dem Projekt, als uns klar wurde, dass wir die Eltern nicht ‚menschlich‘ darstellen können, da die Kinder sonst in einen Loyalitätskonflikt geraten und nicht offen reden.«
Während die Bildkarten bei den Mitarbeitenden des Jugendamts bleiben, behält das Kind sowohl das Bilderbuch als auch den gemeinsam bearbeiten Faltplan. So wird einerseits sichergestellt, dass es bei Bedarf über die notwendigen Kontaktdaten verfügt, andererseits bleibt der Jugendhilfe-Prozess auch langfristig nachvollziehbar – das Kind hat die Planung »selbst in der Hand«. Andererseits dient der Plan der Dokumentation für die Fachkräfte, da hier sowohl die Ausgangslage als auch die Maßnahmen und Veränderungen bildlich festgehalten werden. Bilderbuch und Pläne bieten Raum für die Personalisierung und freie Gestaltungsmöglichkeiten. Das Bilderbuch erklärt kindgerecht die Arbeit des Jugendamtes, zeigt Situationen auf, in denen die Mitarbeiter*innen helfen, stellt aber auch andere Menschen aus dem sozialen Umfeld vor, die ein Kind um Hilfe bitten kann.
»In der Broschüre kann das Kind auf einer Seite seine Sorgen und Nöte darstellen – gemalt, gebastelt oder als Foto. Es kann sie beschreiben und dazu die Situations- oder Gefühlskarten aus dem Set nutzen.« Der Faltplan ist das kindgerecht visualisierte Gegenstück zum »Hilfeplan« des Jugendamtes und dem »Schutzplan«, den die Eltern mit dem Jugendamt vereinbaren. Auch hier hat das Kind unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten. »Zum Beispiel mit den Stickern, auf denen die »Helfer*innen« aus der Broschüre dargestellt sind«, erklärt Sabine Zimmermann und nennt ein Beispiel: »Im Hilfe- und Schutz-Plan werden die Wünsche und Ziele anschaulich benannt und die Schritte dazwischen dokumentiert. Wünscht sich das Kind beispielsweise eine ordentliche, saubere Umgebung, kann eine Haushalthilfe die Familie dabei unterstützen. Dann könnte ein Schritt auf dem Plan der Dienstbeginn der Haushaltshilfe sein, für die wir einen entsprechenden Sticker haben.«
Nach der Entwicklung kommt die Erprobung – und die Erfahrung, was wirklich geht
Fast ein Jahr intensiver Arbeit mit vielen Versuchen und manchem Irrtum hat es gedauert bis eine erste Version dieses Materials fertig gestellt werden konnte. Zuerst haben Fachkräfte im KSD des Amtes für Kinder, Jugendliche und Familien der Stadt Münster damit gearbeitet und zurückgemeldet, wie Bilderbuch, Karten und Pläne bei Kindern ankommen. Parallel sind auch in den Kitas der Outlaw gGmbh die Karten genutzt und viele Beobachtungen zusammengetragen worden, wie Kinder die Motive verstehen und dafür nutzen, zu zeigen, was sie beschäftigt.
Deutlich geworden ist aber auch, dass die Materialien nicht selbsterklärend sind. Ihre große Stärke, vielfältig und flexibel einsetzbar zu sein, ist zugleich auch eine deutliche Schwäche im Alltag. Es fehlte eine Arbeitshilfe, die zum einen das Material und die Möglichkeiten, damit zu arbeiten erklärt und dies am besten mit Beispielen aus der Praxis der Kinderschutzarbeit in einem echten Jugendamt. Für diese anspruchsvolle Arbeit ist es gelungen, Fachkräfte aus insgesamt neuen weiteren Jugendämtern zu gewinnen, die nach kurzer Einführung zwischen Juni und Dezember 2023 mit Bilderbuch, Karten und Plänen gearbeitet und ausprobiert haben, was damit in ihrer Praxis im Kinderschutz möglich ist. In einer 2-tägigen Klausur im Januar 2024 haben sie diese Erfahrungen ausgetauscht und zusammengetragen, wie mit dem Material gearbeitet werden kann.
Die dabei entstandenen Texte sind der Kern eines Werk- und Arbeitsbuches. Zu jedem der Bausteine gibt es einen eigenen Beitrag, in dem das Material kurz vorgestellt wird, Hinweise zur möglichen Nutzung gegeben und an Beispielen die Arbeit anschaulich gemacht wird. In einem fünften Beitrag werden Bedingungen und Erfahrungen für die Arbeit mit dem Material zusammenfassend aufgezeigt mit der Frage: »Welche Möglichkeiten bietet das gesamte Material und welche Voraussetzungen werden für die Nutzung des Materials benötigt?« Das besondere dieser Beiträge ist nicht nur, dass sie »aus der Praxis für die Praxis« erarbeitet wurden, sondern dass die Kolleg:innen aus 10 Jugendämtern sie selber entwickelt und geschrieben haben.